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Burghart Schmidt -Vídeo DE |
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Entrevista amb Burghart Schmidt (Hochschule für Gestaltung, Offenbach a. M.) / Gespräch mit Burghart Schmidt/ Entrevista con Burghart Schmidt. L'entrevista es va realitzar al febrer del 2010 a Offenbach del Main / Das Gespräch fand im Februar 2010 in Offenbach am Main statt.
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Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Ernst Bloch #00:00:04-2# Wie ich zur Blochschen Philosophie gekommen bin? In diesem Zusammenhang muss ich immer erwähnen, dass ich ursprünglich ich aus den Naturwissenschaften komme, weil mir Beweise wichtiger waren als Überzeugbarkeiten. Aber ich studierte Biologie, und in der Biologie in Tübingen waren Leute, die Bloch hochinteressant fanden. Und es waren meine Biologieprofessoren, die sagten: „Der Bloch hält jetzt drei Semester Vorlesungen über das Materialismusproblem. Da müssen sie hingehen. Da wird was rauskommen.“ Und dann bin ich dahingegangen. Darüber lernte ich den Assistenten von Bloch kennen und fragte ihn mal so, wie man denn in ein Bloch-Seminar käme. Da sagte er: „Ach, der Bloch sucht immer so nach Studenten, die aus den Naturwissenschaften kommen, Sie sind schon gleich genommen.“ Da nahm ich also am Seminar teil, übernahm auch ein Referat, und da ging es um die Reste oder um das, was teleologische Forschungseinstellung noch heute in der Biologie leistet. Das war so 1964. Das war noch eine Frage zwischen Driesch und Fortmann. Da hatte Bloch sogar hohe Gäste: zwei Molekularbiologieprofessoren und den Geologieprofessor Wolf von Engelhart, Friedrich Freksa und Gerhard Schramm. Ich hielt das Referat und es gab eine heftige Debatte. Am nächsten Tag traf ich den Assistenten von Bloch wieder und der sagte zu mir: Ja, Bloch hätte ihn schon beauftragt zu ermitteln, wie man mich einladen könne in sein Privatissimum. Da saß ich also nach dem ersten Referat schon in dem engsten Kreis von Bloch; denn er passte auf, dass im Privatissimum nur zehn Leute maximal waren. So wurde ich sein Assistent, als Bloch stark Hilfe brauchte, 1968, wo ein Schub seines Erblindens passierte aufgrund von Untersuchungen, die nicht ganz ohne Risiko waren, die aber gemacht werden mussten. Jetzt war er nicht mehr imstande zu lesen, nicht mehr imstande zu schreiben. Er konnte schreiben, aber die Zeilen gingen durcheinander, und die Buchstaben ineinander und ähnliches. Ich habe dann richtig Palimpsest-Lesen gelernt. Denn ich war nachher der Letzte, der Blochs Schrift mit 91 noch entziffern konnte. Das konnte keiner mehr. Aber ich war da so reingekommen. Ursprünglich schrieb er ja noch blind, ganz blind war er nicht – aber schreiben lesen und so weiter war schwer, und da schrieb er blind noch aus der Gewohnheit, einigermaßen lesbar. Das ging immer weiter zurück, aber das machte ich ja eben mit. Meine Assistenz bei Bloch bezog sich auf seine Arbeit am Gesamtwerk. Wir haben dann eigentlich auch schon nach Probezeit den Vertrag geschlossen, dass ich alles hintanstellen würde, um mich dann mit ihm zusammen an die Abschließung des Gesamtwerks heranzumachen. Und tatsächlich ist das ja auch gelungen. Leider, das hat er dann nicht mehr erlebt. Er hat [die Fertigstellung einzelner Bände] noch erlebt, was doch immer so ein kleines Ritual war. Wenn ein Buch fertig war als Skriptum, dann hat er es noch mal durchgeblättert, wir haben es verpackt, er hat das Paket gehalten, und dann hat er mich zur Post geschickt mit dem Paket, per Einschreiben, ab an den Suhrkamp Verlag. Dann kam ich zurück - das musste ich gleich, vom Postamt wieder zurück zu ihm, damit er den Einschreibzettel in der Hand hätte. Das war noch so mit seinem letzten Band - und der ist ja ein Ergänzungsband – der ging über die geplanten 16 Bände hinaus: „Tendenz, Latenz, Utopie". Da war es noch der Fall, dass ich die Letztdurchsicht machte. Den Band selber hat er durchgeackert mit einem, der mir nachgefolgt war, weil ich ein Lehrangebot bester Art nach Wien erhielt als Dozent. Da hat das ganz dankenswerterweise ein hochintelligenter Theologe und Philosoph, Beat Dietschy, übernommen, der auch engagiert war, aus der Schweiz. Aber Bloch hatte mir dann nach Wien [geschrieben] und gebeten, ich solle noch einmal kommen zur Letztdurchsicht. Das war auch fast rituell. Da war ich noch mal 14 Tage mit ihm zusammen. Und dann dieser Ritus, wieder mit dem Befingern des Einschreibzettels, den ich von der Post zurückgebracht hatte. Jetzt war „Tendenz, Latenz, Utopie" an den Suhrkamp Verlag abgegangen.
Exkurs: Ernst Bloch und der dänische Schriftsteller Henrik Pontoppidan #00:05:15-6# Am nächsten Tag fuhr ich weiter mit meiner Frau nach Frankreich, wo wir vier bis fünf Wochen blieben, in der Bretagne, und ich kam nach Paris zurück. Da trafen wir einen amerikanischen Politologenfreund, Dick Howard. Der fragte nach Bloch, denn ein oder zwei Jahre war er Gastdozent in Tübingen und dann immer bei Bloch, auch in den Bloch-Seminaren und bei Bloch zu Besuch im Kolloquium, also dem Privatissimum. Da fragte er also, wie es Bloch ginge, und da sagte ich aus Erinnerung an diese 14 Tage zuvor: „Eigentlich besser als vorher." Aber als meine Frau und ich nach Tübingen kamen, in das Zimmer, das wir von einem Freund dort zur Verfügung hatten, lag da ein Zettel vom Freund, Ernst Bloch sei gestorben. Das hat mich noch nicht so getroffen, denn es gab schon zwei Mal Fehlmeldungen. Bloch selber ist das passiert, und zwar bekam er von einem Autor, den er sehr schätzte, Henrik Pontoppidan, einem Dänen einen ganz großen Dankesbrief für den hervorragenden Nachruf, den Bloch publiziert hatte, weil er Pontoppidan so schätzte mit seinem Roman „Hans im Glück". Das war für Bloch so wichtig wie Karl May, „Durch die Wüste" oder so, dieser Roman „Hans im Glück". Und ich versuche auch immer zu interpretieren, dass das im Grunde genommen die Vorlage für Musils „Mann ohne Eigenschaften" gewesen zu sein scheint. Das philologische Beweisen ist sehr schwierig, aber auf jeden Fall war das Buch 1906/07 in Dänemark erschienen. Die deutsche Ausgabe kam allerdings später.
Die Nachricht von Blochs Tod. Rückblick auf die Jahre enger Zusammenarbeit #00:07:13-7# Da dachte ich auch, das wäre so eine Fehlmeldung über die Presseagenturen und rief dann bei Karola am nächsten Vormittag an, und sie bestätigte mir, dass er den Tag zuvor gestorben wäre. Dann sind wir gleich zu Karola hin und was damit zusammenhängt. Ich blieb dann auch gleich erst einmal in Tübingen bis zur Beerdigung. Das war also ein ganz enges Verhältnis rund um die Arbeit an der Gesamtausgabe, die auch zustande kam. „Ausgabe letzter Hand" nannte er das. Damit hängt auch etwas sehr Hübsches zusammen. Er hatte für seine Gesamtausgabe beim Suhrkamp Verlag ein eigenes Brett an der Wand. Sie sollte nicht unter anderen Büchern stehen. Und dieses Brett hatte er extra etwas hoch anbringen lassen, damit er selber die Bücher hoch hinaufstellen musste [er musste sich recken], und das nannte er seine „hohe Kante". Weshalb ich ein Erinnerungsbuch über ihn geschrieben habe, ein Büchlein, mit dem Titel „Kopfstand - Buchstand". Denn zuerst standen die Bücher im Kopf bei ihm und bei mir und dann kam es zum Buchstand. Auch das war ein Ritus. Wenn die Signalexemplare kamen, meistens zwei Stück, dann gab er mir eines in die Hand, eines nahm er in die Hand; wir haben beide durchgeblättert und dann hat er sein Exemplar auf die hohe Kante gestellt. Wieder einmal eine Zahnlücke geschlossen! Und daher nannte ich meine Erinnerungen an Ernst Bloch „Kopfstand - Buchstand".
Zum Utopieverständnis heute: Notwendigkeit einer Revision von Blochs Marx-Rezeption und seiner kommunistischen Perspektive #00:09:00-0# Vielleicht ist die Frage danach, wie weit eine Revision der Blochschen Philosophie nötig wäre, dahin zu beantworten: Es geht da nicht um eine eigentliche Revision, das heißt um eine kritische Umkehr oder Ähnliches. Aber unter dem Druck, dass die Utopie neu gedacht werden muss, muss man jetzt auch sagen, Bloch hat das Utopische geschichtsphilosophisch stärkstens verbunden mit seinem Marx-Verständnis. Das spielt die entscheidende Rolle. Konkrete Utopie kann nicht sein ohne die Marxsche Geschichtsperspektive auf Kommunismus hin: eine gerechte, gleiche und gelungene Gesellschaft. Allerdings dachte Bloch die Utopie nicht als Endziel, sondern da gab es schon eine ganz schöne frühe Stelle, die man metaphorisch darauf beziehen muss, aus dem „Geist der Utopie", 1918. Bloch hatte das, wie er so schön plastisch formulieren konnte, auch dort mit einem Sprachbild versehen: „Eine Geburtszange muss glatt sein, eine Zuckerzange mitnichten." Jetzt kann man das so sagen, Bloch sah den Kommunismus nur als die Bewältigung des Lebenskampfs der Menschen in der Natur. Erst dann beginnt der Mensch Mensch zu werden als geistig-materiales Wesen. Erst wenn unsere materiellen Nöte für alle gelöst sind, können wir uns in der Tat entwickeln als die geistig kulturellen Wesen im Zusammenhang mit unseren materiellen Bedingungen. Er sah da also eine ganz große Geschichte weiterrollen, wenn man erstmal die Basis erreicht hätte, dass der Mensch sich nicht verheizen muss für sein bloßes Überleben und sich verheizen muss in Konkurrenzkämpfen und immer nur daran orientiert, dass es ein wachsendes Bruttosozialprodukt gibt. Das wäre die Basis, die eben kommunistisch geregelt gehörte, um dann ganz unkommunistisch anzufangen – beim Individuum. Er war dermaßen Individualist, dass es auch die ersten Reibereien gab. Ich versuchte das in einem von mir herausgegebenen Buch, „Materialien zu Ernst Blochs 'Prinzip Hoffnung' " zu zeigen. Da habe ich lauter Autoren versammelt, die Bloch interpretierten. Habe aber auch ein umfangreiches Vorwort geschrieben oder vielmehr eine Einleitung, in der ich dann mich damit beschäftigte, dass Bloch, als er 1949 den Ruf an die Universität Leipzig in die DDR annahm, keineswegs da so hinkam als unangefochtener großer Geist der DDR, wie das manche hinstellten. Sondern dass er sogleich angefeindet wurde. Und er wurde besonders angefeindet in irgendeiner Rezension von 1951 oder so, die bezog sich nicht so sehr auf Publikationen als auf Ausführungen von Bloch in seinen Vorlesungen. Da hatte Bloch davon gesprochen, dass wir in deutscher Sprache zwei ganz bedeutende Materialisten hätten. Da sei der Materialist der Politologie und Soziologie Karl Marx und der Materialist der Individualseele Sigmund Freud. Da ging die Empörung los. Sigmund Freud neben Marx stellen? Freud, der für die DDR-Ideologie der Abhub von bürgerlichem Individualismus war, also eigentlich bürgerlicher Asozialität. Was soll das im Sozialismus? Da hatte Bloch gezeigt, dass es ihm auf das Individuum ankommt. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, ja. Die Vergesellschaftung der Produktion, damit darüber ein Leben begänne, dass sich ganz aufs Individuum konzentriert. Und insofern also muss man vorsichtig sein, wenn man Revision sagt gegenüber der Blochschen Philosophie als Blochsche Philosophie. Wovon man sich abkoppeln muss, wenn man Utopie neu denken will, ist sicher die Verschränkung mit Marx. So anders Bloch auch verschränkt ist mit Marx, als das unsere Üblichen von der Ideologie des Marxismus meinen.
Die Gesetze der Geschichte sind keine Naturgesetze #00:13:49-0# Nämlich da gibt es etwas, da wurde ich in den 68er Jahren [angegriffen], ich sage das extra im Plural. Es gibt nur ein Jahr 68, aber man kann 68er sagen, dann geht es um die Jahre von 1966–75 ungefähr. Und da geriet ich immer in furchtbare Auseinandersetzungen mit zum Euromarxismus hin Orientierten. Nämlich darüber, dass Bloch eine Stelle bei Karl Marx im „Kapital", wo es um die Tendenz geht, so hoch geschätzt hatte. Da zitiert Bloch Karl Marx mit den Ausführungen, Tendenz sei verhindertes Gesetz. Damit haben wir auf der Hand liegen, dass Marx die Gesetze der Geschichte nicht meinte als Naturgesetze. Naturgesetze sind nicht veränderbar. Marx setzt zu seinen Erläuterungen, was den Tendenzbegriff angeht, durchaus ein zentrales politökonomisches Beispiel. Nämlich dass Konkurrenzkampf - ich sage es jetzt nur ganz allgemein und oberflächlich - dass Konkurrenzkampf zum ständigen Fall der Profitrate führen muss „in the long run". Das heißt, eigentlich ist der Kapitalismus eine prozessuale Struktur, die sich selbst aufhebt, aufheben will tendenziell, weil ja alle Konkurrenz im Begriff schon meint, sie muss niederkonkurriert werden. Nachher gibt es keine Konkurrenz mehr. Das hatte ja schon Platon gewusst, Wenn er dem Staat zumutete, dass er umverteilen müsse. Platon meinte, dass der Basisstaat mit seiner Wirtschaft, seinem Handel nicht kommunistisch organisierbar sei, das sei nur die Gruppe der Philosophen, diese 500 Upperclassler da bei Platon. Aber die haben den Staat in der Hand und der muss dafür sorgen, dass wenn die Reichtumsakkumulationen in den Himmel wachsen, dass sie immer wieder zurückgeschraubt werden in Umverteilungen, damit die Konkurrenzwirtschaft bleibt. So Platon. Also bei Marx spielt das dann auch eine Rolle, indem er sagt, dass der permanente Fall der Profitrate durchaus von kapitalistischen Prozessen gestoppt werden könnte und umgekehrt. Und Engels hat das dann interpretatorisch ausgebreitet dazu, dass Riesenschübe in den Produktivkräften nun einmal kapitalistisch besser zu bewältigen wären als durch jede andere Wirtschaftsform. Unmenschlich bis dorthinaus! Er hat ja schließlich die arbeitende Klasse beschrieben in England und ihr totales Elend, ihre Nullexistenz. Da hatte Engels keinerlei Scheuklappen. Und doch sei das menschlicher als der Absolutismus, oder er hätte dann wohl auch gesagt, als der Stalinismus, Planwirtschaft oder Ähnliches. Da wäre der Kapitalismus immer noch vorzuziehen als schlimme Form, die aber die beste unter schlimmen Formen ist. So steht es mal an einer Stelle bei Engels. Daraus erkläre ich mir manchmal auch: Hätte Engels noch die Zeiten unseres letzten Riesenschubs der Produktivkräfte mitbekommen - jetzt der medialen Produktivkräfte, also der Computermedien und des Internets – dann hätte er vielleicht auch gesagt, ja das ist nur mit Neoliberalismus durchsetzbar. Die Rieseninvestitionen, die das mal gekostet hat. Aber wer hätte sich denn träumen lassen, dass wir nun auch noch das Gehirn maschinisieren, internationalisieren und globalisieren. Also unser Innerstes, was uns leitet, uns unser Ich verleiht, unsere Subjektivität, und was sonst noch. Aber auch das gelingt noch und bringt ungeheure Produktivkraftschübe. Da hätte Engels sich vielleicht auf die Seite der Neoliberalen von heute vorübergehend geschlagen – vorübergehend.
Abkoppelung des Begriffs der konkreten Utopie von der Perspektive der proletarischen Revolution. Foucault: Man muss die sozialen Konflikte suchen, wo sie wirklich sind. #00:18:09-0# Nicht von Marx abkoppeln kann man den Utopiebegriff, wohl aber von Marxens Perspektive auf Revolutionen, die auch die Engelsche war. Denn das heißt ja auf das Proletariat setzen. Und das müssen wir nun mal zugeben, dass das Proletariat im Sinn von Marx durch die Veränderung der Produktivkräfte, unserer Instrumentarien und Maschinerien zurückgeht, statt dass es wächst und wächst und wächst. – Es ist zurückgegangen. Heute kann man sagen, dass höchstens noch 30% einer Gesellschaft der westlichen Industriestaaten im marxschen Sinn als Proletariat bezeichnet werden können. das andere sind Mittelschichten, bis zu den Angestellten hin, die zwar auch Unternommene sind, aber nicht Proletarier. In ihrer totalen Nullexistenz eben. In Hinblick darauf, war für mich nach Bloch und der Kritischen Theorie Michel Foucault das ganz große Erlebnis. Der nämlich darauf basiert, dass wir nicht mit der KPF weiterhin der Formel nachgehen, das Proletariat sei die revolutionäre Subjektivität der Geschichte und werde einmal auch die Revolution machen. Denn das Proletariat geht zurück. Damit hat er ja aber nicht gemeint, auf gesellschaftliche Umwälzungen zu verzichten. Ich habe zwar Russen nach 1990 Foucault interpretieren hören, als würden sie ihn verwechseln mit Max Stirner aus dem 19. Jahrhundert, der von Marx untersucht und kritisiert wurde. Max Stirner: „Der Einzige und sein Eigentum". Als wäre Foucault der Vertreter des absoluten Individualismus, des auf sich geworfenen Individuums, das auch nur seinen Interessen folgen darf, kann, muss und soll. Das stimmt ja nicht für Foucault. In wie vielen gesellschaftliche Konflikten war er engagiert! Etwa in den Konflikten um die Hilfe für das, was in der Gesellschaft an Geisteskranken möglichst ausgegliedert wird. Dann das Engagement für die Strafentlassenen. Wie kriegen die neue Lebenschancen? Dann sein Engagement für die grüne Politik, dann sein Engagement für den Feminismus. Da hatte ja Michel Foucault die Parole gebraucht: „Wir müssen die Gesellschaftskonflikte heute suchen, wo sie wirklich sind und uns nicht von einer Partei unter dem Schein der Wissenschaftlichkeit die Lehre verpassen lassen, dass die revolutionäre Kraft im Proletariat hause, und auch von dort nur erwartbar wäre, und wir müssten jetzt halt ein bisschen Geduld haben. Nein, das geht, glaube ich, nicht mehr so mit Geduld, obwohl Bloch selber so was an sich hatte. Für ihn als Individuum hatte er noch das Lebensglück, nicht eines Besseren belehrt werden zu können, weil die 68er Jahre – jetzt brauche ich das wieder als historischen Bewegungsbegriff, nicht als Jahreszahl – die 68er Jahre gaben ihm ja in seinem zähen Bei-der-Stange-Bleiben Recht. Das hatte er immer ausgedrückt – er suchte ja auch nach sehr unmittelbaren Wortäußerungen, Wortbildern – und da zitierte er immer ein Lied aus den deutschen Bauernkriegen, wo es heißt, nachdem sie geschlagen worden waren. „Geschlagen ziehen wir nach Haus', unsre Enkel fechten's besser aus." Da hatte Bloch immer noch eine Hoffnung auf das Proletariat im klassischen Sinn. Das hat ihn nicht verlassen. Nur insofern meinte ich, dass man sowohl Blochs Lehren transformieren muss als auch die Bindung der Utopie an Marx, für die Bloch steht. Also die Bindung an Marxens Perspektive auf die proletarische Revolution hin. Der Schrecken des Archipel Gulag beendet den Traum von der proletarischen Revolution. #00:22:26-6# Ich glaube, der Traum ist ausgeträumt. Wir wissen aus dem 20. Jahrhundert, dass eine Orientierung an der proletarischen Revolution eine Transformation hin auf das Entsetzen überhaupt sein kann: Archipel Gulag. Da hatten ja die neuen Philosophen Frankreichs vollkommen Recht, wenn sie das Archipel Gulag so ernst nahmen als Menetekel dessen, was proletarische Revolution sein könnte. Die beiden Freunde Lukács und Bloch hatten ja schon mal eine frühe Ahnung. Lukács hat, als er schon längst zur Arbeiterbewegung hin tendierte, trotzdem zu Bloch mal gesagt: „Das haben wir erfahren, dass im Citoyen der Französischen Revolution der Bourgeois steckte. Bewahre uns Gott vor dem, was im Proletarier stecken mag." So Georg Lukács. Und Bloch distanziert sich in Aufsätzen von 1916 /17, in seiner ersten Emigration. Da war er in die Schweiz gegangen, wo er bis 1919 oder 1918 blieb. Und in der Schweiz schrieb er unter Pseudonymen Artikel, Aufsätze gegen das deutsche Kaiserreich. Er vertrat anders als später Lenin die These, am Ersten Weltkrieg sei das deutsche Reich schuld, Kaiser Wilhelm II. Während Lenin ja sagte, alle hätten schuld gehabt. Da sei man so kapitalistisch reingeraten, wie man kapitalistisch reingerät. Das war schon mal eine Distanzierung gegenüber späteren Sichtweisen. Aber da hat Bloch auch Kongresse miterlebt, da war er dabei, Zimmerwald und so, woraufhin er sagte: „Im Lenin, da steckt alles drin, das könnte der rote Zar werden.“ Also so distanziert war 1917 Bloch gegenüber Lenin, als der als Emigrant gerade ebenfalls in der Schweiz war. Da war also für Bloch ursprünglich eine Sperre. Dann kam allerdings die Oktoberrevolution und von deren Erfolg hat sich dann auch Bloch mitreißen lassen. Und dann wurde er Anhänger der Oktoberrevolution. Das hat er dann so weithin durchgehalten. Weshalb es ja in den Aufsätzen zu den Moskauer Prozessen dazu kam, dass er die verteidigte, Stalins Moskauer Prozesse. Allerdings habe ich hervorzukehren versucht, auch in meiner Bloch- Monografie in der Sammlung Metzler, dass man Bloch da in außenpolitischer Sicht verstehen muss. Die Aufsätze erschienen 1937/38. Da hatte Bloch miterlebt, wie die Appeasement-Politik Großbritanniens und die Isolationspolitik der Amerikaner dazu führen könnte, dass das Hitlerregime plötzlich nur noch den einen Feind hat, eben die Sowjetunion. Und wenn da nun ein Sich-Zerbröseln, ein Sich-Zerspellen des Sowjetischen an der Sowjetunion einträte, hätte Hitler gar keinen Gegner mehr. Hoffnungslos wäre er der Sieger und Feldbeherrscher in Europa. Bloch bangte um den Zusammenhalt der Sowjetunion. Und dann stehen Passagen in den Aufsätzen, dafür wäre er genau in die Stalinsche Vernichtungsmaschinerie gekommen wie die vielen, vielen anderen. Nämlich da stehen Passagen (das ist natürlich vollkommener Blödsinn), dass Bucharin, Trotzki und andere Nazi-Agenten wären. Die haben bloß ein sehr hohes Spiel gespielt, darum, ob der Kommunismus nicht auf anderen Wegen besser durchzusetzen wäre als Stalin sich das dachte. So wollte Trotzki ja nicht die Kulakenausbeutung, um zu industrialisieren. Industrialisieren wollte er auch, aber mit den Kulaken... das hätte er auch über die Kulaken gemacht. Die hätte er auch ausgebeutet. Aber die ganze Kolchosenbewegung wollte Trotzki nicht. Da war er gegen Stalin. Wobei man ja auch bei Trotzki vorsichtig sein muss. Das war für mich sozusagen dann die erste Wende: das Buch von Daniel Guérin über den Anarchismus. Denn da schildert er, wie Trotzki schon mit etwas anfing, was Stalin in Spanien weiterführte. Nämlich Trotzki hat ja die Rote Armee aufgebaut und die kämpfte damals, von 1917 bis 1919,an 1920 heran, gegen die weißen Armeen. Und sie war immer schwer bedroht, die Rote Armee. Bündnispartner waren die mächtig breiten anarchistischen Bewegungen von den Bauernmassen in Russland. Die anarchistischen Bauernmassen wurden von Trotzki und seinen Generälen verraten. Nämlich eben, sie wurden dorthin geschickt, wo sie am ehesten zu Tode kamen oder man hat die weißen Armeen informiert, wie sie eine Falle stellen könnten, weil man das Anarchismus-Problem loswerden wollte. Guérin zeigt da schon den Trotzki, der sich verhielt, wie Stalin später gegenüber den Russen, die in Spanien für die Republik gefochten haben. Nämlich sie mundtot machen, damit sie ja nicht mit anderen Erfahrungen in die Sowjetunion kommen und teilweise auch Liquidierung. Weil die ja plötzlich zusammengekommen waren mit linken Amerikanern, linken Engländern, deutschen Emigranten, die mitgekämpft haben und Ähnliches, und da war ihm das eine gefährliche Kost, diese halbaufgeklärten Rückkehrer aus dem Kampf gegen Franco. Und das hat Guérin alles auseinandergesetzt. Meine große Wende, die Lektüre dieses Buches auch hinsichtlich Trotzkis, so oder so genommen. Aber wie Bloch sagte – davon gingen wir aus – von den Moskauer Prozessen: Trotzki sah einen anderen Weg zum Kommunismus als gangbar an als Stalin. Das wären die Differenzen gewesen. Aber trotzdem wäre das die Gefahr gewesen, dass die Sowjetunion sich jetzt in einen andersartigen Bürgerkrieg verwickelt hätte, nämlich den Bürgerkrieg gegen die verschiedenen Vorstellungen vom Weg zum Kommunismus. Und deswegen waren da Hämmer drin, die Stalin sich nicht hätte gefallenlassen, in Blochs Moskauer Aufsätzen.
Statt einer großen Utopie gibt es heute eine Streuung der utopischen Funktion in neuen Konfliktfronten (Foucault, Léotard) Das denke ich von Foucault her. Ich sagte ja vorhin, dass das dann nach Bloch und Kritischer Theorie mein großes intellektuelles Erlebnis war, die Lektüre von Michel Foucault. Nämlich man soll die Konflikte dort erforschen und sich in den Konflikten engagieren, die wirklich da sind, real, die sich realisieren und nicht einer Theorie nachgehen, die sich ein Proletariat zurechtdefiniert hat. Und da fand Foucault verschiedene Fronten. Jetzt kam aber richtig eine Unterhaltung zwischen mir und Bloch [zustande], als ich schon Foucault studierte. Nämlich Bloch fragte mich dann danach, was das denn wäre mit dieser Anti-AKW-Bewegung [gegen den Bau von Atomkraftwerken]. Das war gegen 1971 oder so, noch bevor „Das Materialismusproblem" erschien. Und da sagte ich, ich hätte so die Ahnung, da entstünde jetzt gesellschaftsgeschichtlich jener breite Rücken eines Konflikts durch die Gesellschaft hindurch, der weiter tragen könnte als die Arbeiterbewegung. Heute sind wir so weit, dass der amerikanische Präsident, und früher schon mal der Vizepräsident, Al Gore, sich Klimawandel und Umweltzerstörung zum Thema machen. Jetzt haben wir ein ganz neues Konfliktfeld, in dem aber Kämpfe ausgeführt wurden und worin weiter gekämpft wird. Und nicht bloß an der proletarischen Front. Jetzt hatte ich das andere schon von Foucault her gesagt, die Bewegungen zum Unterstützen der gesellschaftlichen Lage von Strafentlassenen, die Bewegung zur Unterstützung der als psychisch Kranke ausgegliederten ..., an allen möglichen Stellen stößt es in der Gesellschaft aufeinander. Und da kann man sich engagieren. Es sind auch viele Fehler gemacht worden, sowohl in der Bewegung für die Geisteskranken wie in der Bewegung für die Strafentlassenen und Ähnliches. Klar, in der Auseinandersetzung über die Umweltzerstörung sieht es ein bisschen anders aus, weil ... ja, das eine wären doch wieder Herbert Marcusesche Randgruppen. Strafentlassene, Geisteskranke. Ich meine das immer in Anführungszeichen. Michel Foucault hat ja gesagt, indem wir die Vernunft definieren, haben wir die Verrücktheit geschaffen. Wir haben sie erfunden, dadurch, dass wir die Vernunft definieren. Also, die Urheber der Geisteskrankheit sind nicht die Geisteskranken und ihre Krankheit, sondern Descartes und Kant etwa – eher so. So Michel Foucault, der alle möglichen Fronten wirklich auftauchen sieht in der Gesellschaft, an denen man sich engagieren kann und sich weiter auseinandersetzen kann und das geht ja immer nur über eine Zukunftsperspektive, die selbstverständlich Utopie genannt werden muss. So meine ich das mit der Streuung der Utopie, nicht ins Unendliche. Manche erklären ja den Dekonstruktivismus von Derrida als so ein Feuerwerk, wo es nur noch Funken gibt, abertausende Millionen, und keiner weiß mehr, welchen Funken er im Auge behalten soll. Denn dann ist er schon weggefunkt. Nein, die Streuung hat auch ihre Grenzen, zu einer Zeit. Zu späteren Zeiten kommen andere Konfliktsituationen und andere Fronten. Aber zu einer Zeit gibt es Bedingungsfelder, nach denen zwar die Konflikte gestreut sind, damit auch die Utopien gestreut sind. Trotzdem in einer endlichen Menge, könnte man einfach sagen. Das also zum Thema Streuung der Utopie. Das geht nicht ins Endlose, auch nicht ins Beliebige. Man muss immer in den realen Verhältnissen nachweisen können, dass es sich hier um wirklich wirksame Konfrontationen handelt, in denen dann auch wirksame Utopien aufgehen. Und da war dann schon das nächste intellektuelle Erlebnis: Jean François Léotard, den ich auch noch persönlich in Paris kennenlernte. Der die schöne Überlegung brachte: Die großen Geschichten sind ausgeträumt, aber die kleinen Geschichten bleiben. Was er da Geschichten nannte, das könnte man auch mit Utopie übersetzen. Also die großen Utopien - das ist ausgelaufen, aber die kleinen Utopien bleiben. Und dann hat er auch Beispiele genannt. Eben die kommunistische Gesellschaft im Konzept der Sowjetunion - ausgeträumt. Er hat aber auch noch ein ganz anderes Beispiel genommen, um das wir heute ringen, auch wieder eine Konfliktfront, aber auf einem Spezialgelände, also etwas randständig zur Gesamtgesellschaft, aber für die Gesamtgesellschaft unheimlich wesentlich, das ist nämlich die Humboldt-Idee von der Universität. Wir haben die Konflikte, jetzt fetzen wir uns. Der österreichische letzte Kultusminister, der ausgerissen ist nach Brüssel, weil er mit den Schwierigkeiten, die er selber bereitet hatte, nicht mehr klarkam, den habe ich reden hören davon: „Wir müssen endlich die Humboldt-Universität abbauen." Die steht uns in der Quere für berufsorientiertes Studieren. Dabei war ich auf Kongressen, wo Amerikaner sagten, die immer an der Front der Weltgeschichte marschieren: „Wir müssen die Humboldt-Universität zurückgewinnen." Und dann ist das ausgeführt worden. Elite-Universitäten in den USA, die Vorbilder auch für andere sein sollen - Stanford und Berkley -, da gibt es in vielen Fächern die Vorschrift, ein Professor darf im Semester nicht mehr als fünf Studenten haben. Statt der hiesigen „Einschaltquote“: Wenn ein Professor nicht fünfzig Studenten hat, müssen wir sehen, dass wir ihn irgendwie aus dem Betrieb rausbekommen. Und wenn er tausend hat, dann kriegt er Zulagen, Zulagen, Zulagen usw. Das ist nämlich von den Eliteuniversitäten der USA ins Auge gefasst, weil sie es ernst nehmen wollen mit Wilhelm von Humboldts „Einheit von Forschung und Lehre". Und das kann ich sagen: Wenn ich eine große Zahl von Studenten einzuführen habe in die Philosophie, dann muss ich das mit Vorlesung und Seminar in Curricula usw. machen. Hätte ich aber nur fünf Studenten, mit denen würde ich so intensiv zusammenarbeiten, dass sie nach einem halben Jahr so in der Philosophie sind, dass sie bei meinen Forschungsarbeiten mitwirken können. Das ist die amerikanische Idee - zurück zu Humboldt. Aber das hatte Léotard ausgeläutet, obwohl ich glaube, das Kapitel ist noch nicht ausgeschrieben – aus der angegebenen Debattensituation, die ich gerade skizzierte. Aber Léotard hatte gesagt, auch die humboldtsche Universität ist ausgeträumt. Als die Republik und das Athen der Wissenserzeugung. Ja, das wären die großen Geschichten. Aber nun meint Léotard, die kleinen Geschichten laufen weiter. Das heißt, wir haben unsere Konfrontationen und Konflikte in der Gesellschaft, die wir nur nicht groß sehen müssen, wie etwa einen revolutionären Zusammenstoß von Proletariat und Bourgeoisie. Oder so groß sehen, wie die Universität als die demokratische Republik der Wissenserzeugung. Von den Rössern müssen wir runter und da etwas bescheidener werden und in bescheideneren Konflikten unsere Utopien entfalten.
Gegen Baudrillards These vom Untergang des Subjekts steht der Begriff einer provisorischen, variablen Subjektivität. #00:37:24-2# Dagegen bin ich, weil ich glaube, das ist wieder eine philosophische Übertreibung. Tendenziell haben wir es nicht mehr mit geschlossenen Subjektivitäten zu tun, sondern mit sich streuenden Subjektivitäten. In meinem Leben habe ich jetzt die Erfahrung, dass sich nicht ein Charakter durchgesetzt hat, sondern dass ich Stufen der Subjektivitätswandlungen durchgemacht habe. Das heißt, auch ich bin immer ein anderer geworden. Jetzt gar das, was man geschichtstheoretisch unter Subjektivität denkt, nämlich das Auftreten einer Gruppe von Menschen, eines Kollektivs, wie wenn sie eine Person wären. Ohne das kommen wir gar nicht zu Rande. Die Juristerei kennt das lateinisch ausgedrückt als die juristische Person. Die juristische Person ist eben gar keine Person, sondern etwa eine Aktiengesellschaft. Bloß, die Aktiengesellschaft schickt einen Sprecher hin, der tritt so auf als wäre die Aktiengesellschaft er selber, also die Person. Das nennt man juristische Person. Das sind die kollektiven Subjektivitäten. Und die sind natürlich auch erschüttert. Eben das Festhalten am proletarischen Subjekt der Geschichte und Subjekt der Revolution, das können wir nicht weiter betreiben. Also müssen wir uns begeben in soundsoviele verschiedene Subjektivitäten kollektiver bis individueller Art. Das wird aber trotz allem so sein. Denn Baudrillard kann sich ja nur darauf berufen, Subjektivität würde darum scheitern, weil sie in der Überinformation steht. Jetzt berufe ich mich doch einmal, was ich sonst ungern tue, auf eine naturwissenschaftliche Basis. Die Verhaltensforschung hat aufs Gründlichste festgestellt an Tier und Mensch, dass unsere Sinne reduzierend sind, weil wir im Chaos der Daten versacken würden, wenn unser Auge, unser Geruchssinn, unser Gehör, unser Geschmack, unser Tastsinn alle Daten aufnehmen würden, die aufnehmbar wären. Wir arbeiten wahrnehmend durch eine instinktive Reduktivität der Datenzuführung. Das ist zwar so nicht instinktiv gegeben, aber wir sind immer wieder dazu gezwungen, wenn wir überhaupt noch etwas machen wollen und nicht in die völlig passive Resignation verfallen [wollen], die ja höchst verlangsamter Selbstmord wäre. Wir müssen eine intellektuelle Subjektivität der revozierbaren Reduktivität aufbauen. Ich meine, jetzt also zu deutsch, wir müssen als Ich imstande sein, gemäß Sinnperspektiven die Aufnahme von Informationen, die wir hätten aufnehmen können, weil sie vorliegen, zu reduzieren, aber sozusagen geprüft zu reduzieren, und trotzdem in nächsten Folgeschritten die Reduktionen wieder aufzuheben. Also eine variable Reduktivität oder Rückführung, eine variable Verengung. Jede Verengung muss auch in eine Erweiterung übergehen. Aber ohne solche Prozesse, in denen sich mindestens provisorische Subjektivitäten bilden, können wir gar nicht überleben. Das wird individuell so passieren und das passiert auch kollektiv: ein provisorisches Subjekt bilden. Und das hatte Michel Foucault, der immer herangezogen wird mit seinem Hohn über die Meisterdenker, als hätte er die Subjektivität aufgesprengt, wie die Befürworter sagen, aber da ist er doch in dem Denken verwurzelt, wo er leider zu wenig zitiert wird, nämlich in Jean Paul Sartre, nach dem die Subjektivität heute nur noch aus der Situation gedacht wird. Die Situation ist das Vorgängige, denn sonst steckten wir im Charakteridealismus des gesamten Kantianismus, Hegelianismus oder so. [Charakteridealismus: Kant definierte Charakter als die „praktische konsequente Denkungsart nach unveränderlichen Maximen“. (Kritik der praktischen Vernunft)] Na, Hegel schon weniger, der macht schon erste Schritte aus dem Charakteridealismus raus. Ich verwirkliche also nicht einen Charakter, aber ich durchlaufe laufend Situationen, die zwei Seiten haben, eine subjektive und die objektive. Das eine beeinflusst das andere, und da kann ich nicht sagen, das Subjekt erzeugt sich das Objekt oder das Subjekt nimmt das Objekt passiv auf und wird von ihm erzeugt . – Nein, da muss man schön mit Hegelscher Dialektik kommen. Und in dem Sinn muss es also immer wieder provisorische Subjektivitäten geben, zwischen denen wir auch wertend weiterhin unterscheiden können. Die Zerstreuung wird nie absolut werden.
Der Begriff der Allianztechnik bei Bloch bedarf einer naturwissenschaftlichen Erweiterung des Konzepts. #00:42:36-6# Bloch, er konnte aber auch nicht anders, denkt das noch aus der Geistesphilosophie heraus, nach dem Kommunikations- oder Dialogschema: Die Natur personalisiert das Ich in dem Sinne, dass es durch personalisierte Natur naturalisiert wird, als ob das so ineinandergehen könne. Das war aber ja jetzt nur eine Hypothese. Der Hypothese der Allianztechnik widerspreche ich nicht. Wir dürfen nur nicht darauf kommen, dass das so eine ganz andere Technik wäre. Das ging mir in allen Debatten der letzten Jahrzehnte so, dass man die Neuigkeit des Eintretenden immer so furchtbar übertrieben hat, als wenn Michel Foucault die Kritische Theorie erledigt hätte, die Kritische Theorie hat den Existenzialismus erledigt. ... Neues Denken, wir denken jetzt anders – das hat doch alles aufeinander aufgebaut. Da bleibt der Idealismus, die Geschichte kehrt wieder. Wie ich vorhin sagte, Foucault muss seine Subjektivitätskritik binden an eine Situationsphilosophie, die ganz von Sartre übernommen ist. Und das heißt, Allianztechnik ist nur eine Technik, die systemtheoretisch komplex denkt und sich nicht mehr einlässt auf naturwissenschaftliche Grundregeln, die mir noch eingefüttert wurden, als ich mit den Naturwissenschaften begann. Eine Grundregel war: In aller mathematisierten Natur steckt, was Mathematik anbetrifft, ein Unsicherheitsfaktor. Die Natur rechnet nicht ganz genau, aber das ist eine vernachlässigbare Fehlerquelle, im Groben und Ganzen haut es schon hin. Ja, solche Kleinfaktoren als Fehlerquellen, das hat uns ja die moderne Chaostheorie dann gelehrt – etwa das Werk würde gebildet von dem Ausschlagen eines Schmetterlingsflügels in der Mongolei und ein Hurrican entsteht in der Karibik. Es heißt nur, dass da ein kleiner Faktor hinzukommt, der plötzlich einen Potenzialkomplex auslöst. Solange er nicht dabei ist, ist der Komplex Potenzial und tritt nicht in die Wirklichkeit. Das kann man positiv sehen: Wie schaffen wir diese Kleinfaktoren? Dann kommt das ganze Komplexe, wie wir es uns auch wünschen, also utopisch. Aber das kann auch eine Katastrophe sein, deshalb das Beispiel Schmetterlingsflügel und Hurrican in der Karibik. Das hatte schon mal, leider ist das dann in der Biologie untergegangen, Hans Driesch gelehrt, dass das Lebendige aus Potenzialen besteht, die nur noch kleine Reize brauchen, um enorme Wirkungen zustande zu bringen. Das nannte er Reizursache und wollte sagen: Die Physik arbeitet mit jeder Ursache, wo wir immer sagen können, Ursache und Wirkung sind sich im Energiebetrag gleich. Es kommt nicht mehr raus, als reingesteckt wurde. Aber das Lebendige scheint kleinste Ursachen in größte Wirkungen zu verwandeln. Es wurde dann aufgeklärt, dass das daran liegt, dass alles Lebendige so ein riesiges Potenzial ist, an dem nur noch Kleinstfaktoren fehlen, und dann geht es los. Ja aber eben, die Rücksichtnahme auf die Kleinstfaktoren. Das meint ja unsere heutige Vorstellung einer zukünftigen Technologie in dem Sinn, dass die nicht vernachlässigt werden dürfen. Am laufenden Band tut das eine handwerklich orientierte Industrie, die sich nur handwerklich dafür interessiert. Etwa so: Nehme ich einen Hammer von dem und dem Gewicht, einen Nagel von der und der Stärke, dann haue ich das in ein Holz von der und der Dichtigkeit und dann sitzt der Nagel prima. Was sonst noch dabei passiert, ist ganz egal. Kommt nicht darauf an, ich will ja nur den Nagel in die Wand schlagen. Was der da auslöst, danach wird nicht gefragt. Das meinte ich mit dem Komplexen, das an die Stelle von völlig reduzierten Ursache-Wirkung-Verhältnissen treten muss, die man nur so sieht: Ich will Energie gewinnen und die Verfahren, die die Energie bringen, sind ok. Inzwischen sind es aber verdammt gefährliche Verfahren, durch ihre Nebenwirkungen. Medizinisch kennt man das schon längst, dass die Nebenwirkung das Wichtigste vom Wichtigsten ist, was zu überlegen wäre, auch wenn man es in der Praxis nicht tut. Man hat keineswegs die Sicherheitskontrollen durchgeführt, die der Betrieb ideologisch für sich in Anspruch nimmt. Da fehlen also noch riesige Schritte, die keineswegs gemacht wurden, aber ideologisch ist das Regel, dass für die Medizin die Nebenwirkungen eine ganz wichtige Angelegenheit sind. In solchem Sinne muss man Allianztechnik aus der kommunikativen Idee auch ins Naturwissenschaftlich-Technische übersetzen. Sonst würden wir uns nur in praktisch als Phrase auftretenden Wortformulierungen bewegen. Praktisch sind wir im Austausch mit der Natur an eine Natur verwiesen, die für den technischen Eingriff von den Naturwissenschaften durchdrungen wird. Jetzt muss nur der handwerkliche Standpunkt Ursache -Wirkung ersetzt werden durch das systemtheoretische Erfassen des ganzen Bedingungsgefüges, das mit einem einzelnen Faktor gegeben ist, in dem er sich auswirkt oder nicht auswirkt. So wie wir ja auch heute sagen, wir können den Wert von Gütern eigentlich nur einschätzen, wenn wir, anders als der Kapitalismus es heute macht, alle Wertfaktoren mit in die Rechnung nehmen. Das Wasser, das verschmutzt wurde am Kongo, wenn Gold gewaschen wurde, das gehört zu den Unkosten genauso dazu, wie die Energie, die beim Transport des Goldes nach Europa aufgewendet werden muss. Aber die Verschmutzung des Kongowassers bezahlt niemand. Das geht ja noch alles viel weiter, was alles der Kapitalismus vernachlässigt an Ressourcenwerten, die er einsetzt und verwurstet, ohne dass er dafür was bezahlt. Auch im Zeitalter der kapitalistischen Globalisierung muss man, statt in Hoffnungslosigkeit zu versinken, sich auf die Widersprüche konzentrieren 00:49:51-6 Wir müssen uns ja dessen bewusst sein, dass wir nicht einfach sagen können, ausweglos läuft es den falschen Weg. Wir müssen uns auf das richten, was ihm widerspricht. Die Prozesse des Kapitalismus, die wir im Auge haben, die wir angerührt haben, darüber laufen ja Diskussionen. Darin liegt ja die Hoffnung, dass noch nicht aller Tage Abend ist, weil das nicht mehr unwidersprochen ist. Das ist entscheidend. Wir müssen uns an Weniges klammern. Und hier kann man sagen: Da ist die Zähigkeit von Bloch am Platz. Nicht wegen des Glaubens, dass das Proletariat wiederkehren würde und die Subjektivität des Proletariats wirklich Geschichte macht, so dass wir kriegen die gemeinte kommunistische Revolution bekommen. Nein, wegen der Zähigkeit, die Faktoren des Widerspruchs zu den kapitalistischen Zurückführungsprozessen, Verengungsprozessen im Auge zu haben, sie zu stärken, sich da einzusetzen. Und da könnte ich sagen: Auf manchen Gebieten scheint man noch nicht zu ahnen, wie man es machen soll. Wir wissen ja, die Entwicklungshilfe war vor allem ein Mittel dazu, Zinsen rauszuschinden. Es wurde ja auch von „Entschuldung“. gesprochen. Hat man doch schon das Zigfache an Zinsen herausgeholt, warum soll man da nicht die Ursprungssummen streichen. Man hat immer noch neunmal mehr rausgeholt, als man reingesteckt hat. Das war dann Entwicklungshilfe. Oder, Entwicklungshilfe macht die zu Entwickelnden unmündig, weil sie ja wissen, dass ihnen ständig geholfen wird. Folglich setzen sie sich nicht ein zur Selbsthilfe. Aber wir haben auch da ja Widerspruchsfronten: Entwicklungshilfe anders, und Ähnliches. Da muss man eben genügend die Zeitungen lesen und die Magazine und ins Internet schauen und dann findet man doch überall auch Widerspruch und Widerstandsbewegungen, in denen man sich engagieren könnte. In einem Bereich sehen wir das ja schon weit verwirklicht.
Allianztechnik bedeutet auch, Natur unter der Sinnperspektive der Ästhetik zu sehen. Neue Naturschutzgebiete sind ein Weg dorthin 00:52:15-9 Allianztechnik möchte ich nämlich noch einmal aufnehmen. Allianztechnik ist ein Begriff nicht nur der Idee von fast personaler Kommunikation oder von einem Dialog mit der Natur, als ob sie eine menschliche Person wäre. Was Bloch da auch noch meinte – das hatte ich weggelassen, weil wir mehr an dem anderen Strang waren – das war, die Natur unter anderen Sinnperspektiven zu sehen, und das ist die Sinnperspektive der Ästhetik. Wir sind berufen, der Natur ästhetisch zu begegnen, auch wenn die Natur nicht auf Ästhetik angelegt ist. Aber sie vermittelt uns ästhetische Eindrücke, das heißt, es ist ein Potenzial in der Natur zur Ästhetik für den Menschen und wir sollen mit der Natur ästhetisch umgehen. Und da, muss ich sagen, ist ja heute doch einiges passiert, von Naturschutz bis hin zu Kunst im Naturschutzgebiet. Dass man beispielsweise auf Reversibilität achtet und Ähnliches und dass man heute nicht einfach mehr so Straßen durchknallen kann, auch Umweltverträglichkeitsprüfungen und Ähnliches. Wer hätte sich das für die zwanziger Jahre vorstellen können oder die fünfziger und sechziger Jahre? Wilhelmshaven hat da etwas Schönes durchgemacht. Da gab es immer mal wieder die Theorie, die Industrie solle an die Tiefwasserhäfen, weil das ja verkehrstechnisch prima ist. Dafür hat Wilhelmshaven mit einem riesigen Aufwand, auch Landes- und Bundesaufwand, nach Brutalstil der Niederlande Land gewonnen. Das heißt, nicht langsames Aufschlicken und Abwarten, sondern in das offene Meer Spundwände treiben, zwischen den Spundwänden das Wasser rauspumpen, dann zwischen den Spundwänden die mächtigen Deiche hochziehen, dann das, was innerhalb der Deiche ist, rauspumpen und wiederum Sand aus der Nordsee reinpumpen, um das aufzuheben, weil man ja nicht auf die Verschlickung wartet. Es gibt ja auch dieses langsame Zuwachsen der Marschen an den deutschen Nordseeküsten. Aber nein! Jetzt war plötzlich innerhalb von drei Jahren Arbeit daran ein ganz neuer Polder da. Darauf sollte die Industrie gebaut werden. Die Industrie kam nicht. Die Investitionen waren fehlgelaufen. Solche Brutalopolder oder Groten, wie wir in Friesland sagen, sind landwirtschaftlich noch zwanzig Jahre nicht verwendbar wegen des hohen Salzgehalts. So hat man das liegenlassen. Da sind die tollsten Sumpflandschaften und Schilflandschaften und Gewässerlandschaften entstanden. Jetzt ist da die Rohrdommel, die Zwergrohrdommel, das Blaukehlchen, die Bartmeise ... und es ist jetzt schon Natura 2000-Gebiet. Jetzt sind sie gezwungen gewesen, die entsprechenden Partien, die man nicht gleich mit Industrie besetzte, unter Naturschutz zu setzen. Brüssel hat sie dazu gezwungen. Da darf jetzt keine Industrie mehr hin. Es gab aber auch den Jade-Weser-Port. Dafür hat man jetzt wieder in Brutalo-Manier neue Groten angelegt, weil man an die alten nicht mehr rankonnte. Die standen ja unter Naturschutz. Und Naturschutz hat eine ästhetische Komponente. Wir haben eine ästhetische Freude an solcher Natur, und an den seltenen bedrohten Vogelarten und Ähnlichem, selbst an der Möglichkeit. Ich muss sagen, obwohl ich Hobbyornithologe bin, habe ich noch nie eine Rohrdommel gehört, geschweige denn gesehen. Zwergrohrdommeln schon, aber keine Rohrdommel. Die hört man auch meistens nur nachts. Also, so kann sich die Industrie selber reinlegen. Sie schafft neue Wildnisse, die dann unter Schutz stehen. Man hat das Problem gesehen. Nationalparks werden doch jetzt weitgehend beachtet und Ähnliches. Da hat man also eine Front. Industriebrachen werden nicht einfach mehr nur renaturiert, sondern da wird eine landschaftsästhetische Debatte geführt. Das ist ja eines der Verdienste der Blochschen Philosophie. Mit „Geographica I“ und „Geographica II“ hat Bloch endlich einmal eine ästhetische Erdkunde oder eine ästhetische Geographie geschrieben. Also, er war ein Landschaftsästhetiker sondergleichen, und da hat er etwas angezogen. Und das ist in der Allianztechnik drin. Unsere Vermittlung mit der Natur muss nicht nur zur Perspektive haben, dass wir genug zu Fressen und zu Saufen hätten, sondern die Perspektive einer ästhetischen Anpassung der Natur an sich selber. Das wäre Menschenwerk. Er war ja Schellingianer. Und Schelling hat eines der für mich schönsten Worte geprägt, im Menschen habe die Natur ihre Augen aufgeschlagen und ihre Ohren geöffnet. Das ist ein Verpflichtungssatz. Dem ist Bloch immer gefolgt. Lesen Sie seine hervorragenden Aufsätze übers Bergell, übers Engadin und über den Rheinfall bei Schaffhausen in den „Geographica“. Das ist ein Teil der literarischen Aufsätze. Hinreißend.
Bedeutung von Blochs Untersuchungen zur Entdeckung der Landschaftsästhetik in der Malerei des Impressionismus und des Jugendstils 00:57:48-6 Aber dann auch zwei Beispiele, die ich immer bringe, wenn ich meine Lehrveranstaltungen über Natur und Kunst halte, nämlich die Landschaftsfindungen von Impressionismus und Jugendstil. Das hat Bloch durchgeackert. Im „Prinzip Hoffnung“ und auch in den literarischen Aufsätzen. Zwei sind da wichtig. Der eine heißt „Die Naturbilder des 19. Jahrhunderts“ und der andere „Herbst, Heide, Sezession“. Das war Blochs Vorstellung: Die Impressionisten und die Jugendstiler haben zwar nicht Landschaft in dem Sinn erfunden oder eine Landschaftsästhetik erfunden. Die Landschaften gab es, aber sie wurden ästhetisch nicht geachtet. Es gab beispielsweise durchaus einen Reisekult „Provence“. Aber wohin reiste man? Nach Nîmes, Arles, Avignon, um erst einmal die römischen Relikte zu sehen, Pontgarde und die Arena von Nîmes, das Theater von Orange und den Papstpalast in Avignon. Wegen der Kulturüberlieferung reiste man in die Provence. Erst die Impressionisten gingen in die Camarque, wo es keine Kulturrelikte mehr gibt, auffälligerweise. Oder die Impressionisten entdeckten die Vaucluse. Das sind diese hohen Heideebenen auf den Anhöhen links und rechts von der Rhône, vor allem im Osten. Dort nennt man sie die Vaucluse. Auf der anderen Seite sind es ja die Cervennen, Schafheiden und Ähnliches. Flussufer wurden gemieden wegen der Gelsen [Stechmücken], aber Monet und andere Impressionisten haben die Seineufer und Marneufer ins Bild gesetzt. Und die Küsten... Erst kam die Hygiene, das ist klar (Salzwasser soll ja so gut helfen). Aber das Nächste war auch schon die ästhetische Umwertung der Küstenlandschaften, die man bis dahin nur so sah: „Traurig, wer als Fischer da allein sein Leben fristen musste“, aber wir meiden das. Bloch hat dann auch so höhnisch hervorgehoben: Wenn Cäsar über die Alpen gebracht wurde, dann immer in Sänften, nie frei reitend oder so. Und wenn die Alpen kamen, zog er die Gardinen zu und schrieb an seiner Grammatik. Weil er die Alpen für absolut hässlich hielt. Die Künstler haben also Landschaften entdeckt, die ästhetisch nicht geschätzt waren, nicht gewertet waren. Die haben sie ästhetisch umgewertet, im Namen von Nietzsche, Umwertung der Werte. Genauso den Karst von Jugoslawien, jetzt Slowenien und Kroatien. „Herbst, Heide, Sezession“. Daraufhin gingen die Münchner Künstler in die Murnauer Moore, die Dresdner Künstler gingen nach Sassnitz auf Rügen, an die Steilküsten oder nach Dangast an die Nordsee, in die Marschen und die Groten dort.
Nur verschiedene Züge von Blochs Philosophie müssen umgedacht werden. Der Kommunimus als Leitidee, analog zum Begriff der Gerechtigkeit bei Kant.01:01:02-9 Das Landschaftsästhetische, das Bloch in die Philosophie gebracht hat, ist ein ganz großes Verdienst seines Philosophierens, weshalb man Blochs Philosophie als solche nicht so umdenken muss. Nur verschiedene Züge daran muss man transformieren. Das heißt, man kann nicht mehr auf Marxens Perspektive des Proletariats als Subjekt der Geschichte und Subjekt der Revolution zum Kommunismus hin setzen. Wobei Kommunismus was Apartes an sich hat. Das habe ich selbst auch stark behandelt in meiner Auseinandersetzung mit den Franzosen wie Foucault, Léotard, Baudrillard, Derrida. Aber trotzdem war es der vorhin schon erwähnte auch an Bloch orientierte amerikanische Politologe, der mir den entscheidenden Tipp gab, wenn auch nicht absichtlich. Er nannte ein Buch aus seiner Postmoderne, leider ist es nur auf Englisch erschienen: „From Marx to Kant“. Da ging mir auf, Mensch ja, Kommunismus. Jetzt wissen wir, seit 1990 spätestens, dass das auf sowjetisch planwirtschaftlichem Weg nicht geht. Da bleibt Brecht: „Der Kommunismus ist das Einfache, das so schwer zu machen ist.“ Aber da haben wir doch Kant. Kant hatte mit Kommunismus nichts zu tun, aber er meinte die Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit wäre so etwas wie eine Leitidee, von der wir wissen, sie lässt sich nicht realisieren. Wenn ich jemandem wirklich ganz gerecht werde, werde ich es garantiert nur unter dem Umstand, gegen andere ungerecht zu sein. Sonst ist das nicht zu leisten. Das hat ja Brecht , Kantianer ist er nicht, doch fast wie aus kantianischem Geist, in „Der gute Mensch von Sezuan“ entwickelt. Mit der Doppelperson: am Tag Kapitalistin, die aus den Leuten rausholt, was rauszuholen ist, in der Nacht Heilsarmee und Suppen an die Armen, Klamotten an die Armen und irgendwelche Notunterkünfte an die Armen und Ähnliches. Und als herauskam, dass sie dieselbe Person ist und sie danach gefragt wurde, sagte sie: „Um den Leuten wirklich materiell helfen zu können, muss ich mir ja erst materielle Reichtümer verschaffen“. So Kant also, mit der Gerechtigkeit als einer Leitidee, die sich nicht verwirklichen lässt, das wissen wir. Und doch müssen wir uns an sie halten. Und das hatte ich dann vertreten: Kommunismus im Sinn einer konkreten Utopie ist nicht mehr zu vertreten ohne das dauernde Risiko, den Sowjetprozess noch einmal zu wiederholen oder sogar noch zu übertrumpfen in der Zahl der vernichteten und gequälten Menschen.
Verteidigung der kleinen Verbesserungen. Die Leitidee des Kommunismus ist ihre Prüfinstanz 01:04:14-0 Jetzt kann ich den Kommunismus als Leitidee nehmen, von der ich weiß, sie lässt sich nicht realisieren. Aber ich kann jede Tendenz zur Veränderung, die sich regt in der Gesellschaft, darauf abchecken, ob das ein kleiner Schritt hin ins Kommunistische wäre, und dann sagen, das ist für mich das Maß, dann entscheide ich mich dafür. So bin ich heute sehr Anhänger eines echten Arbeitslosengrundeinkommens. Das ist so ein Schritt. Und das soll man nicht verachten. Da trenne ich mich, so sehr ich Benjamin schätze, und Bloch hat das natürlich auch sofort mittrompetet, von seinem Hohn über die Verbesserung der Gefängnisbetten. Da bin ich lieber bei Adorno. Der sagt, schon wenn es einem gelungen ist, einige Schweinereien nicht zu begehen, die man gesellschaftlich sonst normal begangen hätte, wäre bereits viel gewonnen. Also da ist die Bescheidenheit von Adorno, die liegt auch mehr in der Linie von Léotard und den kleinen Geschichten. Aber das mit dem Kommunismus wollte ich noch weiter spinnen; denn einer, der mal an einem Kursus von mir teilnahm, an der deutschen Studienstiftung, Sommerakademie, Roger Behrens, der hat mich dann gestellt, als ich das so entwickelte: Kommunismus, wir wissen, dass das nicht realisierbar ist, wir müssen aber alle Schritte an der großen Geschichte kritisch überprüfen, ohne dass wir in utopischer Perspektive direkt und so schnell wie möglich den Kommunismus ansteuern. Insofern bleibt das Leitidee wie bei Kant die Gerechtigkeit, von der wir nicht runterkommen. Da würde ich mich in solchem Sinn der Lehre von Léotard anschließen: Große Geschichte, das geht nicht mehr, aber die kleinen Geschichten doch. Und da sagte Behrens sehr intelligent: „Aber ebenso wie Sie das eben sagten mit der Leitidee, steckt ja doch in den kleinen Geschichten für Sie immer die große mit drin.“ Das ist es tatsächlich. Ich fand das so schön, ist ja auch ein schönes Wortbild, auch wenn man vielleicht praktisch nicht viel damit anfangen kann: „Man muss die Glocken der Apokalypse noch in einem Bergarbeiterstreik in den Karpaten spüren, hören, mithören“, sagte Lukács einmal als er noch große Worte machte wie die hehren homerischen Zeiten und ihre Epik. Immerhin, da haben Bloch und Lukács sich noch verstanden.
Exkurs über das Buch von Burghart Schmidt, Postmoderne Strategien des Vergessens 01:06:55-8 Das mit der Ungleichzeitigkeit bleibt hier sehr im Hintergrund. Mir ging es jetzt hauptsächlich um das Konzept von „Erbschaft dieser Zeit“, Utopie an dem aufzuweisen, was von allen anderen als gänzlich antiutopisch aufgefasst wird. Und so war das mit der Postmoderne. Einer ihrer großen Gesänge war das Ende der Utopie. Wir können jetzt die ganze Vergangenheit benutzen zu unserer Unterhaltungskultur. Ich nehme gerne Asterix als postmodernes Produkt. Das ist deshalb wichtig, weil ich daran auch Folgendes festmache. Marx hatte das mal so aufgegriffen: Hegel schreibt irgendwo, alles in der Weltgeschichte passiere zweimal, einmal als Tragödie und einmal als Komödie. Hegel habe nur vergessen hinzuzufügen, warum das so ist, schreibt Marx weiter und setzt dann fort, damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide. Nun vergleiche ich im Postmoderne-Buch die Postmoderne mit dem Historismus. Dann stelle ich fest: Der Historismus entfaltete die Formenwelt vergangener Ästhetiken um die alten Werte zu behaupten. Wenn römische Architektur Vorbild wurde, dann wollte man auch Arbeiter. Römische Virtus – also tüchtig arbeiten, zulangen. Und wenn man Renaissance-Ideale der Bildung nahm, indem man Renaissance-Fassaden errichtete, dann wollte man auch den Bildungseifer durchdrungenen Wissens. Am Gymnasium wurde ich mächtig darauf hingetrieben, schwer zu unterscheiden zwischen umfangreichem Wissen und Bildung. Umfangreiches Wissen ist geradezu ein Feind der Bildung, weil Wissen durchdrungen sein muss. Eben, damit ahnte die Bildung die Gefahr der Überinformation. Daher die Scheidung. Und wie ich sagte, der Charakter ist ausgelaufen, so ist natürlich auch die Bildungsidee ausgelaufen. Aber der Historismus strampelte noch darum, Virtus und Bildungsidee, Charakteridee als Werte zu behaupten und darum zitierte er die Vergangenheit. Das will die Postmoderne nicht mehr. Wenn der Architekt Bofill in spätrömischer Architektur baut rund um Paris, tut er das nicht, damit die Virtus der Römer wieder erweckt wird. Das hat die Revolution 1789 getan mit ihren römischen Akzenten, die dann selbst Napoleon sich noch aneignete als Imperator. Hier ist es entscheidend, dass Bofill und solche Postmodernen – Ricardo Bofill, der Spanier, der aber dann von Mitterand oft beauftragt wurde mit größten Angelegenheiten in Frankreich – der meinte das als ein Unterhaltungsspiel mit den Geschichten aus der Vergangenheit. So wie bei Asterix. Das heißt, das ist ein ironisches Herumspielen mit der Vergangenheit, nicht dass man ihre Werte aufwärmen möchte. So wie Asterix ja enorm unterhaltsam ist, das auch in sich selber klarmacht. Eine der schönsten Stellen kommt aus „Asterix und die Normannen. Da wird gezeigt, wie die Normannen an der Steilküste von der Normandie gelandet sind, und da jetzt hochklettern. Darunter steht: „Unter dem Absingen furchtbarer Kriegslieder gehen die Normannen an Land.“ Da ist dann eine schöne Sprechblase mit Noten, in der steht: „Normandie, ich vergess dich nie.“ Und das Schlussbild nachher zeigt, wie die Gallier die Normannen über die Steilküste mit Fußtritten in die Schiffe hauen, wie Fußbälle. Da kommt aber eine Sprechblase von den Normannen her: „In 600 Jahren sehen wir uns wieder.“ Ein Spiel mit der Vergangenheit. Oder noch eine schöne Sache da, ein Bild, wie Asterix und Obelix durch den Urwald latschen und da steht so eine Gallierhütte, strohgedeckt, wie man sie aus der Bretagne kennt, und aus einem Fenster heraus eine Sprechblase: "rosa, rosae, rosae, rosam rosa". Da sagt Asterix zu Obelix: „Das ist richtig gallisch. Man muss die Sprache des Feindes kennenlernen.“ Das ist Spiel mit der Vergangenheit zwecks Unterhaltung. Ich meine, das hätten auch die Architekten gemacht. Erst einmal finde ich das gar nicht so schlecht in Sachen einer späten darstellerischen Kritik des Historismus, nicht einer theoretischen Kritik des Historismus. Aber jetzt die Anwendung des Satzes, den ich vorhin ansteuerte: Die Postmoderne hat Ähnlichkeiten mit dem Historismus, bloß der Historismus war der Ernstfall und die Postmoderne ist die Komödie. Warum das, fragt Marx. Damit die Menschheit heiter vom Historismus scheide. Also im Sinne eines solchen Unterhaltungsspiels trage ich der Postmoderne nicht viel nach. Im Sinne dessen, dass andere im Namen der Postmoderne einen neuen Vergangenheitssinn beanspruchen, einen Geschichtssinn, sage ich, dass die Zerstreuungsstrukturen der postmodernen Prozesse das Beste sind, um an Geschichtseinsicht vorbeizusegeln. Asterix sagt mir nichts über römische und gallische Geschichte. Ich erfahre nichts über die damaligen Gallier im Kampf gegen die Kelten. Das bleibt auf der Ebene der Phrase. Das heißt, die Postmoderne ist in dem, was sie uns anbietet, darstellerisch, künstlerisch, architektonisch eine Zerstörerin von Geschichtsbewusstsein. Und das ist verdammt gefährlich. Indem sie aber die Fragen der Geschichte aufgreift, gelange ich im Postmoderne-Buch zu der Aussage: Die Postmoderne stellt die richtigen Fragen aber ihre Antworten sind oft horrend abschreckend. Nämlich die Postmoderne hat rehabilitiert die Erhabenheitskategorie im das Ornament, das Ornamentale hat sie rehabilitiert, alles, was durch die Moderne verachtet war. Und jetzt kann man ganz anders darüber reden. Etwa über das Erhabene oder das Ornamentale. Und man kann auch über Denker anders reden als selbst linksaufgeklärte, marxistisch orientierte Kulturkritik das mal machte. Da hatte ich eine wunderschöne Unterhaltung mit der in Hannover tätig gewesenen Germanistin Gisela Dischner, Adorno-Schülerin. Die meinte – auch in postmoderner Atmosphäre – mal zu mir: „Na Burghart, meinst du nicht auch, dass wir ein bisschen aufatmen können durch die postmoderne Atmosphäre?“ Ich fragte Gisela: „Warum? Wie meinst du das?“ Und da sagte sie: „Ja stell dir mal vor, bei Adorno, wehe, der hätte erfahren, dass ich C. G. Jung im Original lese. Ich hätte nicht promovieren können. Er hätte mich durchrasseln lassen. Das war verboten. Und jetzt können wir uns ernsthaft wieder damit beschäftigen und es diskutieren und es nicht zum alten Eisen legen.“ Nämlich Adorno war auch ein kleines Element seiner „Dialektik der Aufklärung“, Verkürzung der Vergangenheit durch überschlagende Idealtypen. Da ist die Diskussion breiter geworden. Obwohl die Antworten der Postmoderne eben manchmal horrend abschreckend sind. Und in dem Sinne meinte ich jetzt die Postmoderne als Zerstörer der Geschichte wurde auch so gesehen, und dann sah man sie als antiutopisch an. Es wurde ja auch gesagt, Postindustrialismus. Jetzt kann man noch nicht mal mehr was mit Antiindustrialismus anfangen. Man kann nichts mehr mit Antikapitalismus anfangen. Es wurde ja gesagt, dass der Kapitalismus ausgelaufen ist, denn der Kapitalismus sei definiert von dem Umstand einer Kleinfamilie , dann der Vater patriarchalisch der Boss, der Sachen machte, also Unternehmen. Heute sind alle Unternehmen große Gesellschaften, und die großen Gesellschaften haben Manager als Angestellte. Ja, was ist das noch für ein Kapitalismus. Das ist kein Kapitalismus mehr. Es wurde ja von allen Dächern gerufen, dass es das alles nicht mehr gibt. Und da wollte ich sagen, das ist dann eine gefährliche Folge postmoderner Haltung, bestimmte geschichtliche Strukturen als erledigt aufzufassen, die keineswegs erledigt sind. Der Industrialismus heute ist anders. Das heißt, wir haben auch noch den Basisindustrialismus. Bloß, aus Europa hat man ihn rausgeräumt, er steht in China und in Vietnam und in Indien. Da steht der Basisindustrialismus. Da können wir nur sagen, bei uns haben wir ihn nicht mehr. Die Ungleichzeitigkeit, das ist der Hintergrund, dass die postmoderne Debatte auch die Ungleichzeitigkeitsdebatte von Bloch wieder flott machte, die man eigentlich aufgeklärt schon so gar nicht mehr wahrhaben wollte, höchstens für die Debatte „Wie konnte es zu den Nazis kommen“. Da hat man Blochs „Erbschaft dieser Zeit“ schon zitiert. Aber für unsere moderne Gesellschaft der 60er/70er Jahre konnte man mit der Ungleichzeitigkeit nichts mehr anfangen. Wenn ich das Wort mal gebrauchte, wurde sofort gesagt: „Was ist das denn?“ Und dann: „Eigentlich kann man ja doch nichts damit anfangen“. Dann wurde das aber postmodern so überrundet, dass ich mit Sloterdijk in Paris eine Debatte hatte, als er sagte: „Bleibt mir vom Leib mit der Ungleichzeitigkeit von Bloch. Heute ist übers Internet alles gleichzeitig.“ Und da sagte ich, das würde ich verdammt bezweifeln, das Internet sei voll von ungleichzeitigen Inhalten. Wenn er die Form meint, ist alles präsent, also der Potenz nach präsent. Aber die Inhalte haben ja eine ganz andere Zeitzuordnung als die Präsenz des Internets. Und die Präsenz des Internets kann ich mir nicht zuführen, sondern nur das Internet in Abfrageprozessen. Das heißt , ich muss sein alles präsentierendes Potenzial in Aufnahmeprozesse zeitlicher Art bei mir einführen und da fallen mir dann auch die Ungleichzeitigkeiten, Gleichzeitigkeiten und Übergleichzeitigkeiten ein. Also, das ist für mich strikt so, dass die Postmoderne immer wieder in die falschen Felder führt oder in die falschen Richtungen. Etwa mit der Ungleichzeitigkeit, die die Postmoderne erst wieder interessant gemacht hat, dann aber sogleich zurückgenommen hat, behauptend, es gäbe sie gar nicht.
Kritik des postmodernen Umgangs mit den Ungleichzeitigkeiten als „Strategie des Vergessens“ 01:18:59-7 Ja, das will ich gerade durch mein Postmoderne-Buch wieder verstärken. Nachdem ich erst einmal allgemein theoretisch beginne, zielt das schon darauf, dass wir mit der Ungleichzeitigkeit anders umgehen müssen als die einbügelnde Postmoderne. Daher hat sie eigentlich Strategien des Vergessens parat. Das heißt, sie zitiert, um gleich wieder zu vergessen. Das erinnert an einen Witz über die USA. (Ich bin kein Antiamerikaner, trotzdem ist der Witz so schön, dass man ihn ruhig erzählen kann.) „Warum lernt man eigentlich?“ fragte ein amerikanischer Ehemann seine Frau. „Du, es ist doch wichtig, etwas zu lernen, damit wir was zum Vergessen haben.“
Wir können unsere Wünsche nicht loswerden. Bloch und Benjamin entdecken die Utopie auch dort, wo sie verloren zu sein scheint. 01:19:51-9 Es geht mir um die Zähigkeit, weil wir auch gar nicht anders können. Es ist ja ideologischer Humbug zu sagen, wir könnten uns unserer Wunschwelten und Sehnsuchtswelten entschlagen. Wir können sie aufs reine Traumgleis führen, aber immer bleibt doch auch mindestens noch der Wunsch danach, „Ach wenn das doch Wirklichkeit wäre!“ Das spricht sich ja in einem solchen Satz aus: „Der Kommunismus ist das Einfache, das so schwer zu machen ist.“ Der utopischen Funktion in uns können wir uns gar nicht entschlagen. Wer uns das weismachen will, belügt uns. Nämlich dann ist nur seine Utopie eine andere, und wenn man kratzt, kommt das ja auch raus. In einem sehr interessanten Gespräch wurde Baudrillard die Frage gestellt, die auch Arthur Schopenhauer gestellt wurde – der nun wieder für Bloch so wichtig war –, nämlich, bei seiner pessimistischen Weltsicht, warum nicht Selbstmord? Daraufhin hat Baudrillard gesagt, das zu verfolgen und theoretisch zu durchdringen mache diese Arbeit und das Leben lebenswert. Schopenhauer hat das ein bisschen anders ausgedrückt. Er wurde ja auch gefragt, warum nicht Selbstmord bei seiner Welt- und Menschensicht. Er sagte, er sei darauf gekommen und habe das als Lehre entfaltet, dass das Leben nicht lebenswert wäre. Das müsse er doch verbreiten, also könne er sich nicht umbringen. – Das ist natürlich ein blöder Witz. Aber er hatte so einen unterschwelligen Humor, den er da auch mal für sich selber einsetzte, dass er um der Lehre willen seinerseits nicht Selbstmord begehen könne. Andererseits hat er ja gesagt, dass Selbstmord eine Aktion des Willens zum Leben gegen sich selber wäre. Gegen andere läge es ja auf der Hand, dass das der Wille zum Leben sondergleichen ist, gegen sich selbst genauso. Da ist er ja so scharfsinnig geworden, das hat mir immer imponiert, wie er eine Pfiffigkeit hat, die zur Erhabenheit seiner Denkinhalte nicht so ganz passt. Aus irgendeiner anthropologischen Zeitschrift hatte er herausgefischt, dass es in Afrika Negerstämme geben sollte – so schreibt er –, bei denen es Sitte sei, dass Alte, wenn sie der Gemeinschaft zur Last zu fallen beginnen, durch Verzicht aufs Atmen sich umbringen. Das entspräche ihm, denn Atmen ist Aktion und jetzt verzichtet man auf Aktion. Aber wer sich aufhängt, agiert, wer sich erschießt, agiert, wer Gift schluckt, agiert. Übrigens, zwei Denker haben das ja erfasst, wie die Utopie bleibt, wo sie scheinbar chancenlos ist. Das sind Ernst Bloch und Walter Benjamin. Walter Benjamin hat den großen Satz geprägt: „Nur um der Hoffnungslosen willen ward uns die Hoffnung gegeben.“ Und Bloch hat gesagt, es gibt auch ein Hoffen wider die Hoffnung. So wie bei Baudrillard – zu sehen, ob man Recht behält. Ein spannendes Spiel, nicht? Wie geht das aus? Vielleicht sogar mit dem Faktor: Das Schönste wäre, ich würde enttäuscht. Irgendwo kriecht die Utopie wieder hervor. Adorno hat mal so einen wegwerfenden, dafür aber auch leidlich kitschigen Satz gesagt – nicht auf Utopie, sondern auf Hoffnung bezogen – „So kriecht Hoffnung aus der Welt und will so wenig darin bleiben wie Brei oder Praliné. Aber sie kriecht auch immer wieder zurück, hinter unserem Rücken.“ |
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Publicacions (selecció) / Veröffentlichungen (Auswahl) / Publicaciones (selección) Kritik der reinen Utopie - eine sozialphilosophische Untersuchung im Feld der Wirksamkeit antizipatorischen Bewusstseins, Habilitationsschrift, Hannover 1984. Das Widerstandsargument in der Erkenntnistheorie. Ein Angriff auf die Automatisierung des Wissens, Frankfurt am Main 1985. Ernst Bloch, Sammlung Metzler, Stuttgart 1985. Postmoderne - Strategien des Vergessens. Ein kritischer Bericht, Darmstadt und Neuwied 1986 (4. revidierte Edition 1994). Kritik der reinen Utopie. Eine sozialphilosophische Untersuchung, Stuttgart 1988. Burghart Schmidt, Gérard Raulet: Kritische Theorie des Ornaments, Wien, Köln und Weimar 1993. Am Jenseits zu Heimat. Gegen die herrschende Utopiefeindlichkeit im Dekonstruktiven. Ein Essay mit Anhang, Darmstadt und Wien 1994. Burghart Schmidt, Eugen Gomringer: Schriftbild in Collage, Wien 1994. Kopfstand - Buchstand. Erinnerungen an Ernst Bloch in anekdotischen Aufzeichnungen, Wien 2001. Burghart Schmidt, Adam Jankowski, Robert Lettner: Philosophie der Landschaft. Zwischen Denken und Bild, Berlin 2010. |
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