Ivan Boldyrev
Dipl. Volkswirt und Philosoph, Moskau,seit 2017 Assistenz-Professor für Geschichte und Wirtschaftsphilosophie Radboud Universität Nijmegen
Konzeption und Leitung des Projekts: Francesc Abad
Philosophische Beratung: Claudia Kalász
Postproduktion (Bild und Ton): Adolf Alcañíz
Kamera: Alexander Sokin
Ort und Zeit der Filmaufnahme: Moskau, 5.6.2010
© des Interviewbeitrags: Ivan Boldyrev
Ivan Boldyrev
Economista i filòsof, Moscou, des del 2017 professor assistent d’història i filosofia econòmica a la Universitat Radboud de Nimega
Concepció i direcció del projecte: Francesc Abad
Assessorament filosòfic: Claudia Kalász
Edició i so: Adolf Adolf Alcañíz
Càmera: Alexander Sokin
Lloc i dia de l’entrevista: Moskau, 5.6.2010
© del contingut de l’entrevista: Ivan Boldyrev |
Die Geltung von Blochs Philosophie über ihre Zeit hinaus #00:00:09-4#
Ich muss erstens sagen, dass die Philosophie Blochs über ihre Epoche hinausgewachsen ist. Bloch hat seinen eigentümlichen, expressiven, affektiven Stil des Philosophierens gefunden. Er hat also einige Konstanten ausdrücken können, die wahrscheinlich jeden von uns betreffen, solange wir den Bereich des alltäglichen Lebens durchbrechen und uns irgendwie verändern wollen.
Eine Philosophie im revolutionären Geist der Jahre 1920/30. Ein Gedicht von Alexander Blok #00:00:49-2#
Bloch hat auch versucht, eines dynamischen Triebs innezuwerden, der im Bereich des alltäglichen Lebens, also in der Zeit, sich entfaltet, aber zugleich hat er diesen Trieb als Drang ins Jenseits der Zeit gedeutet. Also als Drang dorthin, wo es keine Zeit mehr gibt. Man darf aber nicht vergessen, dass diese Philosophie von ihrer Zeit untrennbar ist, von ihrer Epoche. Und zwar von den 1910-1920er Jahren, also von der europäischen Avantgarde und der proletarischen Sehnsucht. Von dem geistigen Suchen etwa Martin Bubers oder Gustav Landauers. Das war die Zeit der Kriege, die Zeit der Revolutionen und auch die Zeit der Hoffnungen darauf, dass die Welt sich ganz schnell und plötzlich ändert. Kaum war es ein Zufall, dass der große russische Dichter Alexander Blok in seinem Werk „Die Zwölf“ 1918 die Revolution in Petrograd mit der Wiederkunft Christi verbunden hat. Ich zitiere in der Übertragung von Paul Celan:
… Gehn und schreiten, schreiten, gehen. –
Hungerhund prescht hinterher.
Vorn die Fahne, blutig, wehend,
Und, unsichtbar – denn es schneit –
Einer noch, der ist gefeit,
Sturmfern, sanft, so schreitet er,
Schneeglanz, perlend, um sich her,
Rosenweiß sein Kränzlein ist. –
Vorne gehet Jesus Christ.
Diese allgemeine Stimmung war so gewaltig, dass sie den Blochschen Gedanken eine außerordentliche Gültigkeit gegeben hat. Meiner Meinung nach ist sein Optimismus in der Philosophie der Geschichte in dieser Hoffnung auf eine radikale Erneuerung der Welt der magischen Kraft der Kunst, besonders der Musik verpflichtet. Und wenn die Kunst zur politischen Aktion wird, dann ist es logisch, von den zukunftshaltigen Eigenschaften der Wirklichkeit zu sprechen und viel davon zu erwarten. Bloch gelingt es, sowohl die Freiheit der Menschen im Schaffen ihrer Welt zu betonen als auch die Bedeutsamkeit der Welt- und Naturhermeneutik. Diese unglaublich komplizierte, halb mystische aber im Kontext der Zeit sehr verständlichen Affekte müssen wir auch für unsere Zeit behalten.
Der Stand der Bloch-Forschung in Russland #00:04:32-4#
Nun zum Stand der Bloch-Forschung in Russland: Leider existiert sie fast nicht. Früher war Bloch in allen Bücher als sowjetfeindlicher Philosoph gekennzeichnet. Jetzt kann man die ganze linke Tradition in der russischen geschichtsphilosophischen Literatur kaum finden. Sie ist wie eine heilige Schrift. Die Texte Blochs, Benjamins, Rosenzweigs usw. sind wie eine geheimnisvolle Schrift, wie etwas Unbekanntes für die heutige philosophische Diskussion in Russland. Sie sind wieder zu interpretieren und wieder in den Kontext einzubeziehen. Warum ist das so passiert? Warum ist Bloch fast unbekannt in Russland? Ich würde zwei Gründe nennen. Man hat die riesige Enttäuschung, die der Marxismus den sowjetischen Menschen gebracht hat, nicht überwinden können in den letzten zwanzig Jahren. Und die Sprache Blochs, vom Expressionismus geprägt, ist zwar sehr emphatisch, lässt sich aber sehr schwer übersetzen, unter anderem auch ins Russische. Sergej Wertschinin hat zwar versucht, die „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ zu übersetzen (Jekaterinenburg, 1997). Seine Übertragung aber lässt viel zu wünschen übrig. Jetzt fängt man allmählich in Russland an, Bloch auf Englisch zu lesen und zu zitieren. Die Utopie-Diskussion ist auch sehr lebhaft im Bereich der Soziologie, Sozialphilosophie, politischen Philosophie, Geschichte usw. Es gibt aber keine klare Vorstellung von Bloch in Russland. Dies zu verändern, dazu möchte auch ich als Forscher und Übersetzer beitragen. Nur empfinde ich einen großen Mangel an kommentierten Editionen Blochs auf Deutsch, wo die theoretischen und geschichtlichen Kontexte sorgfältig erarbeitet würden. Ich hoffe aber, ganz im Sinne Blochs, dass sie bald kommen. |